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Wie moralisch muss digitale Technologie sein?

Beitrag von: Sonja Feldmeier, freie Journalistin

„What´s up, what´s next?“ Das fragte der Kundenverband OWM dieses Jahr anlässlich seiner Fachtagung und richtete den Blick auf den technologischen Fortschritt und seine Implikationen auf das Marketing. Von künstlicher Intelligenz (KI) bis Augmented Reality (AR) – möglich ist heute bereits vieles. Aber ist alles Mögliche auch wünschenswert? Und brauchen wir im Zeitalter der Digitalisierung vielleicht sogar eine neue Ethik? Mit dieser philosophischen Fragestellung beschäftigte sich Nicolai Andersen, Vorstand 21 & Chef Innovation Officer Deloitte.

Es war ein nachdenklich stimmender und angenehm differenzierter Beitrag angesichts der allseits grassierenden Tech-Euphorie – gerade auch in der Marketingbranche. „Soll ich die Roboterentwicklung forcieren oder blockieren, wenn es meine Kollegen den Job kosten könnte?“ fragte Andersen und zeigte damit das Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Maschine auf – inklusive der Fragen, auf die es keine einzig richtige Antwort gibt. Und schon gar keine schnellen Antworten. Am häufigsten strapaziert wird dabei das Szenario des autonom fahrenden Autos, das sich im Falle eines drohenden Zusammenstoßes zwischen einer Mutter mit Kinderwagen und einer Gruppe Senioren entscheiden muss. Andersen hält von diesem Szenario wenig, ist es doch schon so alt wie die Philosophie der alten Griechen. Diese haben bereits vor rund 1500 Jahren festgestellt, dass es im Falle eines Schiffuntergangs kein rationales Abwägen geben kann, wem zuerst die helfende Hand auszustrecken wäre. Die Antwort, die sich auch in unserer Verfassung manifestiert: Alle Menschen sind gleich.

Die Bewertung, inwieweit Technologie unser Leben verbessern kann und was wir an Fortschritt wirklich zulassen sollten, kennt viele Grauzonen. Beispielsweise in der Pflege. Ist es moralisch vertretbar, einem Alzheimerkranken einen Roboter als Kuscheltier anzubieten und ihm über Technologie Empathie vorzutäuschen? Oder der demenzkranken Oma einen humanoiden Roboter in Gestalt des Enkels täglich zu Besuch zu schicken – wohlwissend, dass der auswärts studierende Enkel in persona erst wieder zu Weihnachten vorbeischauen kann? Ist das moralisch vertretbar, wenngleich es dem Kranken ein paar glückliche Momente bescheren würde, die er sonst nicht hätte?

Andersen gab dabei zu bedenken, dass die 100-prozentige moralische Integrität, die wir von künstlicher Intelligenz verlangen, schließlich auch vom Menschen nicht erfüllt wird. Wir alle wissen: Kleine Lügen können in einer Beziehung einen riesengroßen Unterschied machen. Das spricht uns aber nicht davon frei, uns mit dem Thema einer digitalen Ethik intensiv zu beschäftigen. „Wir brauchen mehr Wissen und wir müssen wissen, was der Algorithmus tut“, forderte Andersen zum Abschluss. Dabei sieht er auch die Wirtschaft, die Unternehmen in der Verantwortung, „unseren Kindern heute beizubringen, was Digitalisierung ist, damit sie später die richtigen Antworten finden – ohne, dass wir hierfür Gesetze brauchen.“ Dieser Appell ist es meiner Meinung nach wert, auch etwas länger darüber nachzudenken.

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